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Arbeitstagung

Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie

Universität Würzburg

Zur Klinik der Psychosen im Lichte der strukturalen Psychoanalyse

Über Diagnostik und Begehren

unter besonderer Berücksichtigung von Zwang und Paranoia

Jean-Christian Delay

Kopenhagen

Einleitung

 

Der aktuelle Hintergrund meines Beitrages ist die offizielle Einführung der ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders (= Internationale Klassifikation psychischer Störungen) seit 1994 in meinem Heimatland Dänemark.

      Der Beschluß der ICD-10 einzuführen, fand kürzlich Bestärkung durch die Publikation ein 800-seitiges Buches über die psychiatrische Klinik, welches in den kommenden Jahren das Grundlangenwerk der Psychiatrie sein soll. Dieses Buch ist im Lichte der ICD-10 redigiert und enthält übrigens keinen Hinweis auf die strukturale Psychoanalyse.

    Darüber hinaus hat sich der dänische Kontext für die institutionelle Ausübung der Psychotherapie in den letzten zehn Jahren sehr verändert. Die Asylfunktion der Krankenhäuser ist verschwunden. Dort wo einen analytischen Zugang zu diagnostischen Überlegungen und Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie früher durch Bruno Bettelheim inspiriert war, ist die Behandlung heute nicht selten reduziert auf das, was eigentlich nicht viel mehr als ein ‚Visitieren’ ist.

      Andererseits wird die ambulante Behandlung und die Distriktpsychiatrie ständig ausgebaut. Obgleich diese Expansion von den Psychiatern selbst gewünscht wird, wird sie auch von Politikern unterstützt, da sie eine Möglichkeit darstellt, das Budget zu reduzieren. Dies geschieht auch, und doch braucht dies nicht notwendigerweise nur negativ sein. Es ist nämlich nicht notwendigerweise für alle Zeit gültig, daß die Psychiatrie die gesellschaftliche Instanz ist, die offiziell die Geistkrankheiten behandeln muß.

      Da aber keine ernsthafte Alternative vorgeschlagen wird, führt does für viele Psychotiker nicht nur zur sozialen Integration, sondern zur Isolation.

      Gleichzeitig ist das Interesse an der Behandlung psychotischer und psychosenaher Zustände sehr groß. Wenn es aber um die Psychoanalyse geht, lautet die Reaktion oft: „Ja, ja, aber die Psychoanalyse ist ein langwierige Angelegenheit, und wir haben weder Zeit noch Mittel dazu!“

    Diese Tendenz in der Psychiatrie, die nicht nur für Dänemark gilt, sollte von den Psychoanalytikern diskutiert werden. Es geht um die Konzeption des Subjekts, mit dem wir zu tun haben.

     Die Analytiker haben selbst eine gewisse Verantwortung für diesen Zustand. Man muß zwischen dem Rahmen einer Psychoanalyse als solcher und dem analytischen Diskurs unterscheiden. Als Therapie hat die Analyse keine magische Antwort auf die Rätsel der Psychose. Im allgemeinen ist es auch so, das wir erst weit im Verlauf – um nicht zu sagen nach der Beendigung – wissen, ob eigentlich eine Psychoanalyse stattgefunden hat. Dabei geht es nicht darum, ob es sich um eine Analyse handelt oder nicht, sondern darum, daß das Unbewußte und das Begehren auftauchen können; auch in der Behandlung der Psychose.

Die psychiatrische Diagnostik und die Psychoanalyse

Die Praxis der Diagnostik geht nicht nur die Medizin oder die Psychiatrie an, sondern auch die Psychoanalyse. Weder Freud noch Lacan hat auf die Frage nach der Diagnostik verzichtet. Auch wenn die Psychoanalyse die traditionelle Kategorien der Psychiatrie – Neurosen, Psychosen und Perversionen – übernommen hat, so hat sie ihnen durch ein Reformulierung im Lichte des Unbewußten doch eine neue Bedeutung gegeben. Dieser Unterschied wird Heute akzentuiert, auch wenn die Psychiatrie – wie die Psychoanalyse – die grundlegenden diagnostischen Kategorien in Frage stellen.

     Mit der strukturalen Psychoanalyse und der zunehmenden Entwicklung der fachlichen Grundlage ärztlicher Tätigkeit in Richtung eines wissenschaftlichen Ideals könnten wir uns fragen, ob der eigentliche ärztliche diagnostische Prozeß nicht aus der Medizin verschwindet und ein Refugium nur noch in der Psychoanalyse gefunden hat. Lacan hat darüber folgende Bemerkung gemacht:

      "Was ich andeute, wenn ich über die Position spreche, die der Psychoanalytiker innehaben kann, ist, daß er zur Zeit der Einzige ist, von der aus der Arzt die zeitlose Originalität seiner Position festhalten kann, daß heißt die Position dessen, der auf ein Begehrung von Wissen antworten muß. Das kann man aber nicht tun, ohne das Subjekt zur Gegenseite der Ideen zu leiten, die er äußert, um dieses Begehren zu formulieren" (Cahiers du Collège de Médecine, 1966, 7 (n0 12), S. 769).

     „Ce que j'indique en parlant de la position que peut occuper le psychanalyste, c'est qu'actuellement c'est la seule d'où le médecin puisse maintenir l'originalité de toujours de sa position, c'est-à-dire de celui qui a à répondre à une demande de savoir, encore qu'on ne puisse le faire qu'à amener le sujet à se tourner du côté opposé aux idées qu'il émet pour présenter cette demande“ (Cahiers du Collège de Médecine, 1966, 7 (n0 12), S. 769).

         In diesem Sinn betrachtet sich Lacan als „Missionar des Artztes“ (ebd., S. 769).

      Indem die Wissenschaft dem Realen Vorrang zugibt, wird das Symbolische, wovon das sprechende menschliche Subjekt ausgeht, reduziert. Dieser Sachverhalt übt vom psychoanalytischen Standpunkt her problematisch Effekt auf die Klinik aus, besonders bei den Psychosen und psychosenahen Zuständen. Anzumerken ist hier, daß das Wissen der Medizin sich von Tag zu Tag im Bilde der Wissenschaft mehr desubjektiviert, trotzt der Proteste zahlreicher Ärzte und Psychiater.

         Ich möchte ihnen eine Vorstellung davon geben, wieweit die Diagnostik – als diagnostischer Prozeß – das Begehren des Analytikers impliziert.

ICD-10 und DSM-III-R als Rahmen eines psychiatrischen Wissens

Im folgenden möchte ich über die ICD-10 und ihr Pendant, das DSM-III-R, resümieren:

      Wenn es sich auch so verhält, daß diese diagnostischen Manuale nicht die einzigen Werk-zeuge der psychiatrischen Tätigkeit darstellen, sind Vorgehensweise und Ziele nichtsdestoweniger  von Anfang klar formulierte.

      Erstens geht es um die Bestrebung, einen atheoretischen Zugang zur der Diagnostik zu etablieren. Diese A-Theorie geht ebenso die Ätiologi wie auch die pathophysiologischen Prozesse an.

      Darüber hinaus ist die Diagnostik deskriptiv. Die Neurosen finden sich nicht mehr als diagnostische Gruppe, vielmehr wird die Betonung auf „shared clinical features“ (gemeinsame klinische Züge), oder „major common themes or descriptive likenesses“ (gemeinsame Hauptthemen oder deskriptive Ähnlichkeiten) gelegt. So sind die „disorders“ (Störungen, aber auch Unordnungen) gruppiert.

       Die Hysterie, die Lacan zu einem Diskurs erhoben hat, ist als Kategorie verschwunden. Sie wird jetzt zum Teil unter den dissoziativen (Konversions-) Störungen rubriziert. Selbst der Begriff Psychose ist fast annulliert, es findet sich nur noch eingeschränkt auf die Beschreibung von akuten und transitorischen psychotischen Störungen. Die Psychodynamik steht nicht mehr in Beziehung zu den Psychosen. Der Begriff wird verengt und zeigt lediglich die Anwesenheit von Halluzinationen, Wahnzuständen oder einzelnen schwere Störungen des Verhaltens an.

      Das Positive dieses Projekts ist der Versuch, einen Konsens, die  „interjudge diagnostic reliability“ herzustellen, von der die Deutung ausgeschlossen wird. Das DSM-III geht dann noch einen Schritt weiter: das ganze Projekt ist ein Ausdruck für „an increased commitment in our field to reliance on data as the basis for understanding mental disorders“ (eine wachsende Verpflichtung auf unserem Gebiet, auf Daten als Grundlage für die Verständnis von seelischen Störungen zu vertrauen). Sie sehen eine strahlende Zukunft für sich [dieser Satz wurde in der gedruckten Version dieses Textes entfernt, und doch haben die Verfassern des Manuals es so ausdrückt].

       Dazu einige Bemerkungen.

       Atheoretisch zu sein ist unmöglich. Einen Zugang atheoretisch zu nennen heißt, daß man sich nicht die Mühe gemacht hat, die in ihm enthaltene Theorie und seine ethische Implikationen zu formulieren.

       Zu sagen, daß die Handbücher der Diagnostik nicht alleinestehen,  könnte stimmen, aber der Beschluß, die Diagnostik so zu formulieren, übt einen Einfluß auf die Praxis in Richtung zu einer A-Theori aus. Die Verfasser meinen, damit die Wirklichkeit gefunden zu haben. Sie wollen ein präzises und schnelles Wissen. Es soll einen Rahmen geben, in dem dieses Wissens gefestigt ist. Und das ist es, was die Gesellschaft erwartet von der Medizin und der Psychiatrie. Dieses Begehren verschont auch die Psychoanalytikern nicht. In den Vereinigen Staaten gibt es Versicherungsanstalten, die die Forschung unterstützen. Sie verlangen von den  Psychoanalytikern bereits nach der ersten Konsultation die Formulierung einer sicheren Diagnose.

       Es geht um eine Evakuierung des Subjekts. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß einige Störungen im DSM-III nicht aufgeführt sind. Dies sind: ‘Late Luteal Phase Disorder’, ‘Self-defeating Personality Disorder’, und ‘Sadistic Personality Disorder’. Sind dies die einzigen Orte, an denen Raum für ein Subjekt übrig bleibt?      

    Die Psychoanalyse braucht nicht das psychiatrische Wissen, welches bestrebt ist, wissenschaftiches Wissen zu sein, in Frage zu stellen. Die Psychoanalyse befragt die ethische Grundlage dieses Wissen im Lichte des Unbewußten. Es geht eigentlich um eine Kritik, doch auch um die (falsche) Hoffnung und das Ideal, sich radikal vom Bösen und Fremden zu befreien. Es dreht sich nicht um eine Art depressiver Haltung, sondern um eine Befragung des Mechanismus, durch den die Suche nach Lösungen zur Suche nach der absoluten, endgültigen Lösung wird.

Sind wir alle mehr oder weniger verrückt?

Ein Satz wie „Wir sind alle mehr oder weniger verrückt“ ist nicht comme il faut in fachlichen Kreisen. Er ist Ausdruck für ungenügenden denken, für den Mangel an Unterscheidungskraft. Das stimmt, und doch enthält diese Satze einen Kern Wahrheit.

       Ich habe angedeutet, warum. Lacan hat uns auf die Affinität zwischen der modernen Wissenschaft und dem hysterischen Diskurs aufmerksam gemacht. Aber das Wissen, das die Wissenschaft produziert, ist Teil eines gesellschaftlichen Projekts absolutistischer und totaliserender Art. Es entspricht der Suche nach „the real thing“.

       Genau diese Suche nach den Absoluten kennzeichnet sowohl den Zwang als auch die Paranoia. Die Frage geht sowohl die klinische Arbeit als auch die Struktur des sozialen Bandes an.

        In dem Umfang, in dem die Klinik ein soziales Band ist, ist sie, jedenfalls für die Psycho-analyse, eine Klinik von Übertragung.

         Jetzt ist zu Fragen: Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt es zwischen zwanghaften und paranoischen Dimensionen des Wissens in der Klinik?

 

 

Zwang und Paranoia in der Diagnostik

 

Eine Hauptfunktion der Diagnostik in der Psychoanalyse ist das Unterscheiden zwischen einer neurotischen und einer psychotischen Begehrensstrategie beim Subjekt. Der Rahmen sowohl die Grundregeln (z.B. freie Assoziation) in der Psychoanalyse machen es möglich das sich dort eine Psychose manifestieren kann.

        Dies ist nicht der Grund sein, daß man Psychotiker vom analytischen Prozeß fernhält. Die Aufgabe des Analytikers ist es, die Besonderheit der psychotischen Beziehung zum sozialen Band mitzudenken.

       Aber wie findet man diese obengenannten Unterschied in der Praxis, wo die Situation oft unklarer ist als in der Psychiatrie? Vom strukturalistischen Standpunkt aus kann man sich nicht mit der Diagnose Borderline-Störung zufriedengeben.

Dazu einige Beispiele:

         Ein Architekt kommt zu mir, um eine Analyse zu machen.

       Er ist geplagt von dem Zwang, jeden Tag durch die Straße gehen zu müssen, in der seine frühere Analytikerin wohnte. Er muß kontrollieren, ob sie immer noch da ist. Er möchte gern seine Analyse bei Ihr fortsetzen, aber sie hat es ihm untersagt.

       Er erzählt, daß er früher zweimal wegen einer reaktiven Psychose hospitalisiert war.  Das erste Mal als junger Mann, das zweite Mal, als die Analytikerin schwanger wurde. Er wurde eifersüchtig, wollte Tage und Nacht bei seiner Analytikerin sein. Er drohte ihr mit Selbstmord und Gewalt. Gleichzeitig lag er in Streit mit seinem Arbeitsgeber und verlor schließlich seine Arbeit. Er halluzinierte und schrie auf der Straße auf seine Analytikerin. Er wird hospitalisierte. Die Therapie wird abgebrochen.

       Was wollte er bei mir? Als er mir seine eigene Theorie über die Entstehung von Neurose, Psychose und Perversionen erklären wollte, erwähnte er seinen Vater.

        Nun zu seiner Theorie: In ihr geht es darum, in welcher Weise die Nabelschnur bei der Geburt abgeschnitten wird. Über diese Art der Schnittführung die zu Neurose, Psychose oder Perversionen führen kann, müßten wir, so meint der Patient, zusammen ein Buch schreiben.

        Warum nicht? Er hatte etwas zu sagen darüber wie man sein eigenes Leben anfängt.

        Hier würde ich den Ursprung des Symbolischen sehen.

       Zwei, drei Jahre oszillierte der Patient zwischen einigen statischen Zwangsvorstellungen und dem Versuch, paranoische Theorie/Vorstellungen zu konstruieren.

        Wenn das Wissen, daß er hat, eine Zwangsvorstellung ist, so steht diese Zwangsvorstellung in einem Bestimmten Verhältnis zum großen Anderen. Er sucht das Genießen des Anderen zu vermeiden, um sich selbst zu schützen. Geht es aber um eine paranoische Konstruktion, so ist diese ein Versuch, das Wissen zu produzieren, wovon der Andere genießen kann. In der Paranoia konstituiert das Subjekt sich als Objekt des Genießens des Anderen. Die Problematik ist eher eine Frage der Geschlechtunterschieds als eine Frage der Homosexualität.

       In beiden Fällen gibt es keinen Mangel. Der große Andere ist nicht durchgestrichen, nicht kastriert. So zum Beispiel in dem Fall, in dem eine Patientin zu mir sagt: "So lange ich bei Ihnen in Analyse bin, kann ich nicht psychotisch werden".

       Nun berichte ich von einem Fall, in dem ein Mangel sichtbar wurde und seine symbolische Funktion ausüben konnte. Die Patientin zeigt auch psychotische Anzeichen, tendiert sie mehr zur Hysterie.

     Innerhalb einer dreizehnjährigen Therapie begann sie mit einer Ausbildung zur Sozial-pädagogin. Nach der Ausbildung gab sie mir ihre Visitkarte und sagte dazu: "Ich weiß, daß Sie mir nie einen Klienten überweisen werden".

      Nach einigen Monaten bekam ich einen Brief von einem Mann, der in eine sozialpädago-gische Behandlung gehen wollte, und ich ließ ihr diesen Brief zukommen.

        Sie fand heraus, daß der Klient im Gefängnis saß. Sie reagierte aggressiv und glaubte, daß ich ihr einen Verbrecher an den Hals hetzen wollte. Ich befürchtete, daß sie noch einmal paranoid reagieren könnte. Das geschah jedoch nicht. Im Gegenteil, sie brauchte den Mangel von uns beiden, um das soziale Band weiter zu knüpfen und hat darin ihren Platz als begehrendes Subjekt gefunden.

       In diesem Fall gab es keine Deutung, die man wissen bzw. aussprechen könnte, sondern eine Deutung, die unbewußt was, sowohl für die Patientin als auch für mich. Nachträglich hat sich das Geschehen erst als Deutung gezeigt.

Schluß

Damit wollte ich sagen, daß die Diagnostik in der Psychoanalyse (in der Übertragung) eine punktuelle, situative Denkarbeit ist – ein progressives und kein konstituiertes Wissen.

     In diesem Zusammenhang möchte ich an die Sätze Freuds am Ende der Schreberanalyse erinnern: „Es bleibt der Zukunft überlassen zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden“ (S. Freud, Zwang, Paranoia und Perversion, Frankfurt am Main 1975, StA Bd. VII S. 200).

       Es stimmt, daß es eine gewisse Gleichheit zwischen Theorie, Diagnostik und der Paranoia gibt. Das hat mit der Konstituierung des Symbolischen zu tun. Aber der Satz Freuds ist nicht paranoisch. Er hält die Möglichkeit aufrecht, sich weiterhin im Symbolischen auszudrücken.

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